Kosmische Erziehung als Basis
„Cosmic education is not a question of instructing the child’s mind… In this stage of human development it is an answer to life, to pulsating, irresistible, demanding life.”
Mario M. Montessori
Im Laufe des sechsten Lebensjahres macht ein Kind eine große Veränderung durch. Es verändert sich die Art, wie das Kind lernt, sowie seine sozialen und kognitiven Bedürfnisse.
Diese Veränderungen machen eine ganz andere Entwicklungsumgebung notwendig: eine Montessori-Schule.
Das Kind erweitert sozial und kognitiv seinen Aktionsradius, so dass es wirkt, als ob es das gesamte Universum durch große Freude am Erforschen auf einmal aufnehmen möchte. Deshalb wird auch das Unterrichtsprinzip einer Montessori-Schule als „Kosmische Erziehung“ bezeichnet.
Die Bedürfnisse der Kinder in diesem Alter sind von einem so großen Umfang, die neuen Fähigkeiten, die sie entwickeln, so vielfältig, die Aufnahmefähigkeit überwältigend und die Umgebung, die man dazu braucht, so grenzenlos, dass die Entwicklungsprozesse in dieser Phase vor allem das eine brauchen: viel Zeit. Das bedeutet aber nicht, den Kindern die Zeit lassen und schauen, ob die Prozesse in Gang kommen, sondern den vielen Aktivitäten Zeit zu geben, um sie verwirklichen zu können.
Das ist auch der Grund, warum in der Montessori-Pädagogik die Ganztagsschule, nicht im Sinne einer Aufbewahrungsanstalt, sondern im Sinne einer optimalen Entwicklungsumgebung, eine gelebte Praxis geworden ist.
Kognitive Entwicklung
Das erste, das einem auffällt, der eine Montessori-Schule besucht, ist, dass die Kinder viel lernen und den Gleichaltrigen oft voraus sind. Die meisten Erstklässler beherrschen schon alle vier Rechenarten mit Zahlen in der Größenordnung von Millionen und Milliarden, schreiben Texte oder erforschen die Natur und die Menschheitsgeschichte. Das ist kein Wunder, hatten die meisten bereits in einem Kinderhaus die Möglichkeit, Lesen, Schreiben und Rechnen zu erlernen.
Die Kinder arbeiten entweder allein, zu zweit oder in einer kleinen Gruppe. Die klassischen Montessori-Materialien, die die meisten Menschen als erstes mit der Montessori-Pädagogik verbinden (so wie beispielsweise der zur Ikone gewordene Rosa Turm), bekommen in der Schule eine ganz neue Bedeutung, werden durch andere didaktische Mittel ergänzt oder ersetzt.
Die sogenannten ,Großen Erzählungen’ und die Arbeit mit Zeitleisten geben den Kindern einen panoramaartigen Überblick, der nach dem Prinzip vom Ganzen zum Detail (z.B. vom Globus zur Landkarte) vertieft wird. Auch wenn sie sich mit einem Detail beschäftigen, sind die Kinder dann in der Lage, das Ganze zu verstehen und entwickeln, statt Einzelheiten auswendig zu lernen, ein vernetztes Wissen. Auch das Durchführen von Experimenten, oder, wenn keine eigene Beobachtung möglich ist, die Arbeit mit Schaubildern und Modellen, bringt den Kindern die komplexen Zusammenhänge näher. Die Ergebnisse ihrer Arbeit präsentieren die Kinder mit viel Freude: in Form von Heften, Plakaten oder Vorträgen für die ganze Gruppe.
Und, so bewundernswert es auch ist, diese großen kognitiven Fähigkeiten sind ‚nur‘ ein Nebenprodukt der vielfältigen Entwicklungsprozesse, die das Kind in diesem Alter durchmacht.
Und bei diesen Entwicklungsprozessen geht es vor allem darum, mithilfe der Vorstellungskraft, die den Kindern in diesem Alter eigen ist, komplexe Zusammenhänge zu durchschauen. Im kognitiven Bereich bedeutet das, sich Fragen von großer Reichweite zu stellen: die Entstehung des Universums, die Entwicklung des Lebens und später die des Menschen; die Sprachen und Lebensweisen weit entfernter oder längst verschwundener Völker, die Musik und die bildende Kunst, sowie komplexe Zusammenhänge der Arithmetik, der Geometrie oder der Satzgrammatik. In der Umgebung, die eine Montessori-Schule zur Verfügung stellt, haben die Kinder die Möglichkeit und auch die notwendige Zeit all diese Fragestellungen in ihrer Art und Weise zu erforschen.
Soziale Entwicklung
Was noch wichtiger ist und für einen Betrachter auf eine andere Art sichtbar, ist die Bedeutung dieser Entwicklung im sozialen Bereich.
Das Kind, das im Kinderhaus gelernt hat, sich als ein selbstständiges Wesen zu begreifen, lernt in der Schule, sich als ein Teil der Gruppe zu verstehen. Dafür braucht es eine altersgemischte Gruppe. Deswegen fällt gerade in dieses Alter das verstärkte Loslösen von der Familie. Fast alles, was die Kinder in diesem Alter unternehmen, findet in der Gruppe statt; die Interaktion ist beinahe ununterbrochen, alle Prozesse sind immer auch Gruppenprozesse.
Ganz selbstverständlich bauen Kinder dabei ihre sozialen Fähigkeiten aus. Schlagworte wie Teamwork, soziale Kompetenz, Selbstständigkeit und Verantwortung werden nicht ‚gelehrt‘, sondern entwickeln sich spontan dadurch, dass Kindern dafür die notwendigen Voraussetzungen zur Verfügung stehen: eine altersheterogene Gruppe, eine ausreichend lange Zeit des Beisammenseins, sowie die Möglichkeit innerhalb der Gruppe zu interagieren. Es ist dann die Freundlichkeit, die Ausgeglichenheit, das harmonische Miteinander, die dem Betrachter auffallen.
Ein Kind, dem diese Möglichkeiten zur Verfügung gestellt wurden wächst zu einem selbstständigen, selbstsicheren, kompetenten Menschen heran, der die große Freude am Lernen erhalten und ausbauen konnte und als Folge eine vielfältige, solide Bildung besitzt, und der sich seiner Fähigkeiten und Kenntnisse bewusst ist.
Mit diesen Eigenschaften haben die Kinder dann die notwendige Grundlage, in der ‚schwierigen‘ Zeit der Pubertät – in einer ganz anderen Entwicklungsphase und in einer ganz anderen Entwicklungsumgebung – ihren Platz in der Gesellschaft zu suchen und zu finden.